Interview: Ein 360-Grad Blick in die Zukunft

Mithilfe einer ‚Gesamtsystemsimulation‘ wird im NRL die Zukunft der Energiewende simuliert. Lucas Jürgens vom CC4E der HAW Hamburg erklärt uns, wie das funktioniert.
Lucas Jürgens auf dem Dach des Technologiezentrums Energie-Campus des CC4E. Foto: © Pieter-Pan

Autor: Leon Schröter, CC4E/HAW Hamburg, studentischer Mitarbeiter TV 3.1 „Industrielle Transformation und gesellschaftliche Teilhabe“

Der lange Weg bis zur Klimaneutralität ist nicht klar vorgezeichnet: Es gibt unzählige Stellschrauben, Bausteine und Eventualitäten. Um zu verstehen, wie die Einzelteile zusammen funktionieren, simuliert das NRL-Teilvorhaben 2.1 das Energiesystem als Ganzes. Lucas Jürgens, Teil des Teams, das sich am CC4E der HAW Hamburg um das Thema kümmert, gibt uns im Interview einen Einblick in dieses Vorhaben.

Magst du zum Einstieg einmal kurz beschreiben, wie du zum CC4E gekommen bist?

Lucas: Ich habe an der TU Hamburg Energie- und Umwelttechnik im Bachelor und anschließend Regenerative Energien im Master studiert. 2019 war ich auf Jobsuche und bin dabei auf das Vorgängerprojekt des NRL, NEW 4.0, aufmerksam geworden. Daraufhin habe ich mich beim CC4E beworben – das hat dann auch direkt geklappt. Als NEW 4.0 auslief, habe ich die Antragsphase für das NRL begleitet und das Thema Gesamtsystemsimulation in das neue Projekt übertragen. Im Unterschied zum Vorgängerprojekt betrachten wir im NRL auch Gasnetze und den Wärmebedarf, um so Potenziale für der Sektorkopplung erfassen zu können.

Du hast den Begriff „Gesamtsystemsimulation“ genannt. Was kann man sich in diesem Kontext darunter vorstellen?

Lucas: „Gesamtsystem“ beziehungsweise die Simulation dessen ist tatsächlich ein Begriff, den jeder etwas anders definiert. Wir im Teilvorhaben 2.1 des NRL verstehen darunter einen ganzheitlichen Ansatz, der das Energiesystem mit seinen zahlreichen technischen Möglichkeiten in den Blick nimmt. Konkret meint das die Energiebereitstellung und -umwandlung unter zusätzlicher Berücksichtigung von Wirtschaftlichkeit, Geschäftsmodellen und Regulatorik. Dadurch fließt auch die Arbeit vieler anderer AGs bei uns mit ein. Unser Ziel ist es, dieses Energiesystem in einer Systemmodellierung abzubilden. Im Fokus stehen die Stromnetze, aber wir betrachten auch Gasnetze und den Wärmebedarf – insbesondere unter dem Aspekt der Sektorkopplung. Unterfüttert wird das Gesamtsystem durch die Arbeiten im Teilvorhaben 2.2, die sich mit der Sicherheit der Information- und Kommunikationstechnologie im Energiesystem befassen.

„Indem wir einzelne Parameter im Modell verändern, können wir immer wieder neue Szenarien testen: Was passiert beispielsweise, wenn auf jedem Dach eine Solaranlage installiert wäre?“

Worauf liegt der aktuelle Schwerpunkt eurer Arbeit?

Lucas: Mit Hilfe der Simulationen schauen wir uns Szenarien an, die es heute so noch gar nicht gibt. Konkret betrachten wir das Energiesystem Norddeutschlands ab den 2030er Jahren und gehen in Fünf-Jahres-Schritten bis ins Jahr 2045, also dem Jahr, in dem Deutschland klimaneutral sein will. Die Modelle sind für uns dabei vor allem ein Werkzeug: Die enthaltenen Daten haben wir mit unseren Projektpartnern – unter anderem den Netzbetreibern – auf Plausibilität geprüft. So können wir möglichst realistische Szenarien bauen. Innerhalb des NRL-Konsortiums tauschen wir uns regelmäßig aus, um möglichst viele Daten und Erkenntnisse einfließen zu lassen. Zum Beispiel arbeiten wir mit dem Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik zusammen. Die haben einen Datensatz entwickelt, der neben Ausbauprognosen auch Daten zur Erzeugung und zu den Bedarfen von Energie enthält. Indem wir einzelne Parameter im Modell verändern, können wir immer wieder neue Szenarien testen: Was passiert beispielsweise, wenn auf jedem Dach eine Solaranlage installiert wäre? So lassen sich auch potenzielle neue Probleme identifizieren.

„Trotz aller Rückschläge sehen wir, dass Norddeutschland nach wie vor enormes Potenzial hat. Hier gibt es einfach riesige Ressourcen an erneuerbaren Energien.“

Welche Hürden sind euch begegnet?

Lucas: Viele Herausforderungen, die wir im Gesamtprojekt beobachten, betreffen natürlich auch uns. Beispielsweise konnten einige große Elektrolyseure am Ende nicht realisiert werden, weil sich die Wirtschaftlichkeit aufgrund veränderter Rahmenbedingungen nicht mehr darstellen ließ. Solche Entwicklungen müssen wir dann aus unseren Modellen herausnehmen. Trotzdem bleibt in unserem Ansatz eine zentrale Prämisse bestehen: Es braucht Elektrolyseure, damit wir nicht wieder völlig von Importen aus dem Ausland abhängig werden – künftig nicht mehr bei Öl und Gas, sondern zum Beispiel bei Wasserstoff.

Welches Potenzial seht ihr in der Modellregion Norddeutschland?

Lucas: Trotz aller Rückschläge sehen wir, dass Norddeutschland nach wie vor enormes Potenzial hat. Hier gibt es einfach riesige Ressourcen an erneuerbaren Energien. Die zentrale Frage – und genau daran arbeiten wir mit unserem Modell – ist: An welchen Stellschrauben muss gedreht werden, damit dieses Potenzial auch wirklich ausgeschöpft werden kann? Ein Schlüsselfaktor ist definitiv der Ausbau der Netzinfrastruktur, die bislang noch auf das alte, fossile Stromsystem ausgelegt ist. Die Verteilung wird heute dezentraler, weil viele kleine Windräder Strom einspeisen statt eines einzelnen großen Atomkraftwerks. Auch Batteriespeicher und Elektrolyseure können dazu beitragen, das Netz zu entlasten und Energie anders zu transportieren. Die Energiewende ist ein komplexer Prozess, aber mit dem richtigen Zusammenspiel der Technologien, wie wir es in unserem Vorhaben simulieren, lässt sich das Potenzial der Region bestmöglich nutzen.

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