Grüner Wasserstoff im Sektorenvergleich: Markthochlauf braucht Mechanismen zur Priorisierung

Eine neue NRL-Studie identifiziert gegenläufige Trends bei der Anwendung von grünem Wasserstoff.
NRL: H2 Studienreihe Teil 6 - Grüner Wasserstoff im Sektorenvergleich – Widersprüche im Markthochlauf

Autorin: Sandra Meyer-Ghosh, CC4E/HAW Hamburg, Pressesprecherin NRL

Grüner Wasserstoff ist ein wesentlicher Baustein für den Weg zur Klimaneutralität – doch noch ist er teuer, daher muss sein Einsatz mit Bedacht erfolgen. Eine Studienreihe aus dem Energiewende-Verbundprojekt Norddeutsches Reallabor (NRL) identifiziert hierbei gegenläufige Trends: Zwar ist der Kostennachteil durch den Einsatz von grünem Wasserstoff anstelle von fossilen Energieträgern im Verkehrssektor am geringsten. Aus Effizienzüberlegungen gilt es aber eher den Industriesektor zu priorisieren. Um Anreize für die prioritäre Anwendung von grünem Wasserstoff dort zu schaffen, wo es keine wirtschaftlicheren klimaneutralen Alternativen gibt, empfehlen die Studienautoren, den Fokus auf flankierende Mechanismen zu legen.

Die Studienreihe „Grüner Wasserstoff für die Energiewende – Potentiale, Grenzen und Prioritäten“ widmet sich der Erzeugung von grünem Wasserstoff und seiner Nutzung in drei für das Gelingen der Energiewende entscheidenden Sektoren: Industrie, Wärme und Verkehr. Der nun erschienene sechste und letzte Studienteil „Wasserstoffanwendungen im Sektorenvergleich” fasst die bisherigen Veröffentlichungen zusammen und resümiert, wie grüner Wasserstoff als Markt der Zukunft bewertet werden kann: In welchen Sektoren ist er zu priorisieren und in welchen Einsatzfeldern ist er überhaupt marktfähig?

Industrie, Wärme und Verkehr: Effizienz vs. Wirtschaftlichkeit

Die Studie zeigt auf, dass der Industriesektor bei der Nutzung von grünem Wasserstoff priorisiert werden sollte, da Alternativen zur Defossilisierung hier nur begrenzt vorhanden sind. Insbesondere Industriegüter wie Primärstahl und Ammoniak sowie die chemische Industrie könnten erheblich von grünem Wasserstoff profitieren. Allerdings ist die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber konventionellen Prozessen nur bei sehr niedrigen Wasserstoffpreisen erreichbar: Um mit Erdgas konkurrieren zu können, müsste der Wasserstoffpreis im Industriesektor den Berechnungen der Studienreihe zufolge für Ammoniak beispielsweise bei 3,3 €/kg netto liegen, für Primärstahl bei ca. 1,6 €/kg netto. Dagegen lagen die realistischen Wasserstoff-Erzeugungskosten gemäß der Studie im Sommer 2024 noch bei ca. 6,1 €/kg netto.

Im Wärmesektor ist grüner Wasserstoff keine wirtschaftliche Alternative zu bestehenden Heizsystemen wie Erdgasheizkesseln oder Wärmepumpen. „Der Wasserstoffpreis für Endkunden inklusive Anlieferung müsste bei etwa 4 €/kg brutto liegen, um mit Erdgas zu konkurrieren. In Anbetracht der effizienteren und kostengünstigeren Dekarbonisierung mit Wärmepumpen oder Fernwärme ist im Wärmesektor keine Notwendigkeit des Einsatzes von Wasserstoff gegeben“, so Studienautor Dr. Felix Doucet vom Competence Center für Erneuerbare Energien und EnergieEffizienz (CC4E) der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. „Dennoch könnte Wasserstoff in Nischenanwendungen wie der Spitzenlastdeckung in Wärmenetzen sinnvoll eingesetzt werden. Und auch die Integration der Wasserstoffwirtschaft in Wärmenetze zur Nutzung und Vermarktung der industriellen Abwärme sollte als ein ergänzendes Geschäftsmodell mitgedacht werden.“

Im Verkehrssektor hingegen zeigt sich bereits bei einem Tankstellenpreis für grünen Wasserstoff von etwa 9 bis 13 €/kg brutto eine Wettbewerbsfähigkeit mit den Preisen für fossile Kraftstoffe. Die Wettbewerbsfähigkeit von grünem Wasserstoff wird durch das politische Instrument der THG-Minderungsquote unterstützt, die zusätzliche Einnahmen für die Erzeuger generiert. Da reine Elektroantriebe für die straßenbasierte Mobilität allerdings effizienter und die Fahrzeuge in der Anschaffung günstiger sind, haben sich diese in den meisten Anwendungsfeldern inzwischen durchgesetzt. Dem Einsatz von grünem Wasserstoff im Straßenverkehr muss demzufolge zumindest in der Breite keine Priorität eingeräumt werden. Anders stellt es sich im Flug- und Schiffverkehr dar, wo bisher erprobte Alternativen fehlen und grüner Wasserstoff beispielsweise direkt oder indirekt in Form von E-fuels eingesetzt werden kann.

Studie fordert neue Anreizmechanismen

„Die Analyse verdeutlicht zwei Dinge: Während es im Wärme- und Verkehrssektor Effizienzvorteile bei der direkten Nutzung von grünem Strom im Vergleich zu grünem Wasserstoff gibt, hat der Industriesektor diese Alternative häufig nicht. Dies betrifft speziell Industrieprozesse mit stofflicher Nutzung von Wasserstoff und Hochtemperaturprozesse, die nicht elektrifizierbar sind. Vor diesem Hintergrund müsste eine sektorspezifische strategische Planung erfolgen, um eine prioritäre Nutzung von grünem Wasserstoff dort zu erreichen, wo die Alternativen einer effizienteren direkten Nutzung von Strom aus erneuerbaren Energien fehlen“, so Prof. Dr. Eric von Düsterlho, Dekan der Fakultät Wirtschaft und Soziales an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und Leiter der Arbeitsgruppe, die hinter der Veröffentlichung steht.

Um grünen Wasserstoff prioritär dort einsetzen zu können, wo es keine effizienteren klimaneutralen Möglichkeiten gibt, werden in der Studie mehrere Empfehlungen ausgesprochen:

  • Es sollten strategische Planungsinstrumente wie Klimaschutzverträge genutzt werden, um die effizientesten Defossilisierungsoptionen für verschiedene Sektoren zu identifizieren und eine optimale Nutzung knapper Energieträger wie grünem Wasserstoff sicherzustellen.
  • Darüber hinaus empfehlen die Autoren, einen stärkeren Anreiz für die gemeinsame Planung des Strom- und Wärmesektors zu setzen: Die Kopplung der Erzeugung von grünem Wasserstoff mit Wärmenetzen und erneuerbaren Energiequellen als Speicherlösung verspricht wertvolle Effizienzgewinne. Der Einsatz von grünem Wasserstoff für die Spitzenlast stabilisiert die Energiesysteme.
  • Zusätzlich erfordere die dringend notwendige Kostensenkung bei der Erzeugung von grünem Wasserstoff eine kontinuierliche Forschung und die Bereitschaft zu Investitionen in neue Technologien zur Effizienzsteigerung.
  • Schließlich sei es wichtig, umweltökonomische Instrumente wie beispielsweise die Bepreisung von Kohlenstoff und den EU-Emissionshandel (EU ETS 1 und EU ETS 2) aufrechtzuerhalten bzw. weiter auszubauen und idealerweise über die EU hinaus international auszuweiten.
Über die Studienreihe

Die Studie „Wasserstoffanwendungen im Sektorenvergleich” von Dr. Felix Doucet, Prof. Dr. Jens-Eric von Düsterlho, Jonas Bannert und Dr. Marina Blohm ist der sechste Teil der im Frühjahr 2023 gestarteten NRL-Studienreihe „Grüner Wasserstoff für die Energiewende – Potentiale, Grenzen und Prioritäten“. Im Rahmen dieser Reihe bewertet die NRL-Arbeitsgruppe „Neue Märkte, Geschäftsmodelle & Regulatorik“ zunächst relevante H2-Technologien in Hinblick auf ihre Potentiale und Grenzen mittels techno-ökonomischer Betrachtungen. Anschließend werden daraus Prioritäten für den zukünftigen Einsatz von grünem Wasserstoff abgeleitet. Den Auftakt der Reihe machte eine Veröffentlichung zum Einsatz von Wasserstoff im Gebäudesektor (Februar 2023). Es folgten die Studien zum Mobilitätssektor (April 2023), Industriesektor (Oktober 2023) und der Wasserstofferzeugung (Juni 2024). Mit dem aktuellen Sektorenvergleich schließt die Reihe.

Alle Studien werden unter www.norddeutsches-reallabor.de/presse#studien bereitgestellt.

Über das Norddeutsche Reallabor

Das Norddeutsche Reallabor (NRL) ist ein innovatives Verbundprojekt, das neue Wege zur Klimaneutralität aufzeigt. Dazu werden Produktions- und Lebensbereiche mit besonders hohem Energieverbrauch schrittweise defossilisiert – insbesondere in der Industrie, aber auch in der Wärmeversorgung und dem Mobilitätssektor. Hinter dem im April 2021 gestarteten Projekt steht eine wachsende Energiewende-Allianz mit mehr als 50 Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Das Großprojekt hat eine Laufzeit von sechs Jahren (04/2021-03/2027). Das Investitionsvolumen der beteiligten Partner beträgt über 200 Mio. Euro. Das NRL ist Teil der Förderinitiative „Reallabore der Energiewende“ und wird mit rund 30 Mio. Euro durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert. Weitere Fördermittel werden durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) bereitgestellt. Das NRL versteht sich als ausbaufähige Plattform auch für weitere Projekte.

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