Grüner Wasserstoff: Markthochlauf zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Energiewende-Akteure diskutieren beim Konsortialtreffen des Norddeutschen Reallabors in Hamburg über wichtige Weichenstellungen.

Konsortialtreffen Norddeutsches Reallabor 2024, v.l.n.r.: Jens Kerstan, Senator für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft der Stadt Hamburg; Mike Blicker, NRL-Projektkoordinator; Dr. Melanie Leonhard, Senatorin für Wirtschaft und Innovation der Stadt Hamburg; Reinhard Meyer, Minister für Wirtschaft, Infrastruktur, Tourismus und Arbeit des Landes Mecklenburg-Vorpommern; Foto: Gregor Fischer/NRL.

Autorin: Dr. Sandra Meyer-Ghosh, CC4E/HAW Hamburg, Pressesprecherin NRL

Hamburg, 29. August 2024. Mehr als 50 Projektpartner ziehen seit dreieinhalb Jahren im Norddeutschen Reallabor (NRL) an einem Strang und erproben gemeinsam neue Wege zur Klimaneutralität. Beim diesjährigen Konsortialtreffen der Energiewende-Allianz stand der dringend notwendige Hochlauf von grünem Wasserstoff im Fokus: Vertreter*innen aus Industrie, Wissenschaft und Politik diskutierten, was ihn noch ausbremst und wie er sich beschleunigen lässt.

Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) geförderte Verbundprojekt NRL befindet sich seit diesem Jahr in seiner entscheidenden Umsetzungsphase: Erste Referenzanlagen gehen in Betrieb und zeigen, wie energieintensive Bereiche wie die Wärmeversorgung, der Mobilitätssektor und die regionale Großindustrie defossilisiert werden können. Bis zu 350.000 Tonnen CO2 pro Jahr wollen die Projektpartner durch die im Rahmen des NRL realisierten Anlagen einsparen – und gleichzeitig demonstrieren, dass effizienter Klimaschutz mit wirtschaftlichen Perspektiven vereinbar ist.

Energiepolitischer Auftakt mit norddeutschen Landesregierungen

Unter dem Titel „Wege zur Wasserstoffwirtschaft“ kamen beim diesjährigen Konsortialtreffen, das am 29. August im Hamburger Hotel Gastwerk stattfand, rund 100 Teilnehmende aus Energiewirtschaft, Industrie und Verwaltung zusammen.
Den Auftakt der Veranstaltung bildeten Redebeiträge von Vertreter*innen der am NRL beteiligten Landesregierungen: Hamburgs Wirtschaftssenatorin Dr. Melanie Leonhard sprach über die Rolle Hamburgs als Wasserstoffmetropole und die Industrie auf dem Weg zur Transformation. Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaftsminister Reinhard Meyer stellte die Energiewende als entscheidenden Wirtschaftsfaktor für sein Bundesland dar. Schleswig-Holsteins Staatssekretär im Umweltministerium Joschka Knuth sendete ein Videogrußwort. In der anschließenden Podiumsdiskussion debattierten Wirtschaftsminister Meyer, Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan, Detlev Wösten als Geschäftsführer der H&R Ölwerke Schindler GmbH sowie Christian Heine als Geschäftsführer der Hamburger Energiewerke GmbH über die Frage, was der Norden jetzt für einen schnellen Wasserstoff-Markthochlauf braucht und inwiefern dieser noch eher Wunsch als Wirklichkeit ist.

Klimakrise erfordert schnelle industrielle Transformation

Nach überstandener Coronakrise und Energiekrise erhofft sich die deutsche Wirtschaft nun starke Impulse aus der Politik, damit die Transformation zur Klimaneutralität gelingen kann. Deren Dringlichkeit zeigte sich in den vergangenen Wochen und Monaten einmal mehr anhand extremer Wetterereignisse.
Mike Blicker, NRL-Projektkoordinator: „Aktuelle Klimastudien bekräftigen die Notwendigkeit, die Energiewende deutlich zu beschleunigen und dazu alle Verbrauchssektoren möglichst schnell zu defossiliseren. Der Wasserstoffwirtschaft kommt dafür eine zentrale Rolle zu. Pilotprojekte wie das Norddeutsche Reallabor, in denen innovative grüne Technologien unter echten Bedingungen erprobt werden, liefern wichtige Impulse für die nächsten konkreten Schritte auf dem Weg zur Klimaneutralität.“

NRL-Meilensteine: Erste Elektrolyseure & Deutschlands größtes Industriewärmeprojekt

In den vergangenen Monaten wurden bei den Projektpartnern des Norddeutschen Reallabors wichtige Meilensteine erreicht:

  • Mitte August wurde der erste im Rahmen des NRL geförderte Elektrolyseur bei der Stadtreinigung Hamburg angeliefert. Er soll im Kompostwerk Bützberg eingesetzt werden, um grünen Wasserstoff in der Bioabfallvergärung zu nutzen und so die Ausbeute an Biogas zu steigern. Die Anlage mit 1,1 MW Leistung wird voraussichtlich Ende des Jahres in Betrieb gehen. Der größte Elektrolyseur im NRL wird nach derzeitigem Stand eine Leistung von 25 MW haben. Er wird von der HAzwei GmbH im Hamburger Hafen geplant. Der dort erzeugte Wasserstoff soll insbesondere bei NRL-Partner HOLBORN zum Einsatz kommen und dessen Weg zur grünen Raffinerie unterstützen.
  • Während eines geplanten Wartungsstillstands hat Multimetall-Produzent Aurubis seine Anodenöfen, eine zentrale Technologie in der Kupferraffination, gegen Öfen getauscht, die „H2-ready“ sind. Sie können also statt Erdgas auch Wasserstoff als Energieträger einsetzen. Dann fällt bei der Kupferreduktion statt Kohlendioxid lediglich Wasserdampf als Nebenprodukt an – ein wichtiger Schritt in der Dekarbonisierung der Metallproduktion. Bei vollständigem Einsatz von Wasserstoff als Reduktionsmittel kann das Unternehmen am Standort Hamburg rund 5.000 Tonnen CO2 pro Jahr einsparen.
  • Nach dem Wartungsstillstand bei Aurubis steht auch Deutschlands größtes industrielles Abwärmeprojekt kurz vor dem Anschluss. Ab der kommenden Heizperiode 2024/25 können insgesamt bis zu 28.000 Hamburger Haushalte mit CO2-freier Abwärme von Aurubis versorgt werden. Bereits seit Mitte April speist die Müllverwertungsanlage Borsigstraße zusätzlich 350.000 MWh Abwärme in das Hamburger Fernwärmenetz ein, ermöglicht durch den Einsatz von drei dampfbetriebenen Absorptionswärmepumpen. So können ohne den Einsatz von zusätzlichem Brennstoff weitere rund 35.000 Haushalte mit Wärme versorgt werden. Beide Vorhaben sind assoziierte Projekte des Norddeutschen Reallabors und sparen fortan große Mengen CO2 in der städtischen Wärmeversorgung ein.
  • Im Frühjahr starteten die Transformation Labs des Norddeutschen Reallabors, eine Veranstaltungsreihe, die Energiewendeakteure zusammenbringt, um über die Treiber und Hemmnisse für den Einsatz innovativer Energiewende-Technologien zu diskutieren. Forschende des Competence Centers für Erneuerbare Energien und Energieeffizienz (CC4E) der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg entwickeln auf Basis dieser Diskussionen qualitative Szenarien für den Markthochlauf.
Wasserstoffmarkt kommt in Bewegung

Auch im Umfeld des NRL ist die Energiebranche derzeit stark in Bewegung: Die Planungen des Wasserstoff-Kernnetzes konkretisieren sich, eine Reihe von großskaligen IPCEI-Projekten (Important Projects of Common European Interest) hat kürzlich Fördermittelbescheide erhalten und die Bundesnetzagentur hat die Anpassung der nicht mehr zeitgemäßen Netzentgeltsystematik angestoßen, die sich auch auf die lokale Wasserstoffproduktion auswirken könnte. Allerdings zeigt die Pilot-Auktion der European Hydrogen Bank, bei der kein deutsches Gebot erfolgreich war, dass hierzulande noch erheblicher Nachholbedarf bei den Rahmenbedingungen für grünen Wasserstoff besteht.
Der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft steht also an einem Scheideweg zwischen ambitionierten Zielen und realen Herausforderungen. Mit seiner klaren Ausrichtung auf Innovation und Kooperation setzt das Norddeutsche Reallabor wichtige Akzente, um den Aufbau einer nachhaltigen Wasserstoffwirtschaft in Norddeutschland voranzutreiben und die Energiewende erfolgreich zu gestalten.

V.l.n.r.: Detlev Wösten, Geschäftsführung H+R Ölwerke Schindler GmbH; Mike Blicker, NRL-Projektkoordinator; Jens Kerstan, Senator für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft der Stadt Hamburg; Dr. Melanie Leonhard, Senatorin für Wirtschaft und Innovation der Stadt Hamburg; Reinhard Meyer, Minister für Wirtschaft, Infrastruktur, Tourismus und Arbeit des Landes Mecklenburg-Vorpommern; Matthias Boxberger, Vorstandsvorsitzender Hansewerk AG; Christian Heine, Geschäftsführer Hamburger Energiewerke GmbH, Foto: Gregor Fischer/NRL.

Zitate zum NRL-Konsortialtreffen

Dr. Melanie Leonhard, Senatorin für Wirtschaft und Innovation der Freien und Hansestadt Hamburg: „Wir wollen in Norddeutschland gemeinsam eine Blaupause liefern, wie der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft gelingen kann. Hamburg übernimmt dabei eine Vorreiterrolle. Mit Projekten wie dem Norddeutschen Reallabor, dem Hamburg Green Hydrogen Hub und dem Wasserstoff-Industrienetz legen wir den Grundstein für eine klimaneutrale Zukunft, die weit über die Grenzen Hamburgs hinaus wirkt. Wir haben im Norden die Chance, die gesamte Wertschöpfungskette von grünem Wasserstoff abzubilden – von der Erzeugung über die Speicherung bis hin zur Anwendung in Industrie und Mobilität. Das sind beste Voraussetzungen, die wir nutzen wollen.“

Jens Kerstan, Senator für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft der Freien und Hansestadt Hamburg: „Um uns alle zukunftsfähig aufzustellen, brauchen wir den ganzheitlichen Umbau des Energiesystems mit 100% Erneuerbaren. In den letzten Jahren konnte dies mit vielen Projekten dank des Zusammenschlusses von Unternehmen, Wissenschaft und Verwaltung im Norddeutschen Reallabor gemeinsam vorangetrieben werden. Die Sektorkopplung durch Wasserstofftechnologien und Nutzung bzw. Speicherung industrieller Abwärme spielt dabei eine entscheidende Rolle. Hier in Hamburg zeigen wir: Grüner Wasserstoff ist heute nicht mehr nur Wunsch, sondern wird Wirklichkeit. Woanders wird geredet und geplant, hier in Hamburg wird gebaut. Grüner Wasserstoff wird der zukünftige Standortfaktor für unseren Hafen und unsere Industrie, und wir werden hier in Hamburg darüber hinaus bundes- und europaweit zu einem wichtigen Wasserstoff-Zentrum. Das Norddeutsche Reallabor (NRL) zeigt dabei, wie wir diese große Aufgabe gemeinsam bewältigen können und wie die Energiewende gemeinsam Realität werden kann.“

Reinhard Meyer, Minister für Wirtschaft, Infrastruktur, Tourismus und Arbeit Mecklenburg-Vorpommern: „Als windreiches Küstenland hat Mecklenburg-Vorpommern große Kapazitäten zur Erzeugung von erneuerbarem Strom. Dieser grüne Strom aus Windkraftanlagen an Land und auf See kann mittels Elektrolyse zur Produktion von grünem Wasserstoff genutzt werden. Unsere Häfen werden zentrale Knotenpunkte für den Wasserstoffimport. Wir sind entschlossen, unser Land zum Vorreiter der Wasserstofftechnologie zu machen. Der Aufbau der Wasserstoffwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern stärkt unsere industrielle Basis und die Wertschöpfung vor Ort. Deshalb setzen wir uns mit Kraft für ein ausreichend dimensioniertes und resilientes Wasserstoff-Kernnetz ohne weiße Flecken ein.“

Detlev Wösten, Geschäftsführer H&R Ölwerke Schindler GmbH: „Zur Transformation der Grundstoffindustrie wurde mit der Beantragung des Wasserstoff-Kernnetzes ein weiterer wesentlicher Meilenstein erreicht und die Referenzprojekte des Norddeutschen Reallabors setzen wichtige Impulse für den Markthochlauf. Gleichzeitig stellt die anhaltende Rezession in der deutschen Industrie und der steigende Wettbewerbsdruck zusehends größere Herausforderungen bei der Defossilisierung in den unterschiedlichen Industriesegmenten dar. Deshalb ist nun eine pragmatischere Regulation im Sinne eines ‚Industrial Deals‘ zur Ergänzung des ‚Green Deals‘ erforderlich.“

Über das Norddeutsche Reallabor

Das Norddeutsche Reallabor (NRL) ist ein innovatives Verbundprojekt, das neue Wege zur Klimaneutralität aufzeigt. Dazu werden Produktions- und Lebensbereiche mit besonders hohem Energieverbrauch schrittweise defossilisiert – insbesondere in der Industrie, aber auch in der Wärmeversorgung und dem Mobilitätssektor. Hinter dem im April 2021 gestarteten Projekt steht eine wachsende Energiewende-Allianz mit mehr als 50 Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Das Großprojekt hat eine Laufzeit von fünf Jahren (04/2021-03/2026). Das Investitionsvolumen der beteiligten Partner beträgt über 405 Mio. Euro. Das NRL ist Teil der Förderinitiative „Reallabore der Energiewende“ und wird mit rund 55 Mio. Euro durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert. Weitere Fördermittel werden durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) bereitgestellt. Das NRL versteht sich als ausbaufähige Plattform auch für weitere Projekte. Mehr Informationen zum Norddeutschen Reallabor finden Sie unter www.norddeutsches-reallabor.de/.

Weitere Beiträge